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Dr. Teresa Bischoff über Ernst Handl  und sein Manifest

 

Kunst-Manifest

Es geht nicht nur um Worte. Es geht nicht nur um Meinungsäußerungen. Ein Manifest weist über all das hinaus. Es versteht sich als Offenbarung, als Anleitung zum Weiterdenken, Weitersagen, Weitermachen. Aus dem Lateinischen übersetzt bedeutet Manifest: etwas „handgreiflich machen.“ Treffender könnten die Sätze des Künstlers Ernst Handl nicht überschrieben sein. Hier setzt einer mit Worten Prinzipien, gibt Auskunft über seine Intention, seine Absicht, sein Ziel, vor allem aber über sein Selbstverständnis als Künstler, der mit seinem Tun und Denken, seiner Haltung und seiner Ästhetik reflektierend in die Welt ausstrahlen möchte. Zehn Sätze hat der Künstler verfasst, die als Brücke fungieren. Es sind aufrichtige Wahrheiten, die trotz ihrer zeitlichen Gerichtetheit die Jahrhunderte durchdringen.

 

„Ich male nicht, um zu erklären. Ich male, um zu hören.“

Ernst Handl beginnt grundlegend. Er setzt die tradierte Meinung von der Aufgabe eines Künstlers außer Kraft. Als Betrachter gehen wir davon aus, dass Malerei etwas vermittelt. Durch Farben, Formen, Linien, ja ganzen Kompositionen werden Inhalte oder Stimmungen dargestellt. Mit dieser Erwartungshaltung treten wir vor Bilder. Ernst Handls Intention ist eine andere. Nicht der Künstler möchte dem Betrachter etwas erzählen oder eine klare Botschaft senden, vielmehr nutzt er das Bild um etwas zu bekommen. Er ersetzt seinen aktiven Part durch einen passiven. Er wechselt von einem Sender hin zu einem Empfänger. 

Kunst ist für ihn kein einseitig gerichteter Monolog, sondern ein Gespräch in alle Richtungen. Handl versteht sein Malen nicht als Sprache der Vernunft, die anderen etwas mitteilt, sondern als Sprache des Seins. Sein Malen konstituiert sich vor allem darin, dass es sich zurücknimmt und lauscht. Einer der erklärt, ist stets einer, der sich in einer übergeordneten, vielleicht sogar überlegenen Position sieht; einer, der durch sein Tun vermittelt, mehr zu wissen als sein Gegenüber; einer, der es versteht zu analysieren und zu erläutern. Zu hören hingegen bedeutet, selbst leise werden zu müssen, schweigen zu lernen, aufmerksam zu sein, auf das Gegenüber einzugehen, sich zu öffnen und empfänglich zu sein. Es ist eine Haltung der Demut. Der Künstler stellt sich nicht über das Bild, sondern unterwirft sich dem nach außen gerichteten Entwicklungsprozess seiner Intuition. 

 

„Ein Bild beginnt nicht mit einer Idee, sondern mit einem Zustand.“

War im Mittelalter der Grund eines jeglichen Kunstschaffens fest verankert in der Idee des Gottesdienstes, entwickelte die Renaissance eine andere Herleitung des künstlerischen Prozesses. Die Idee, der Funke, den der Künstler in sich trägt, der disegno interno, die inwendige Zeichnung, bricht sich mit dem technischen Talent Bahn und entfaltet sich ins Außen. Der geistige Prozess war unabdingbar mit dem äußeren, sichtbaren Tun verwoben. Er galt als Voraussetzung und wurde ebenso hochgeschätzt wie das spätere fertige Werk. 

Ernst Handl stellt diese über viele Jahrhunderte hinweg geltende Ansicht, dass ein Kunstwerk immer aus einem rationalen, klar umrissenen Gedanken heraus entstehen muss, nun in Frage. Stattdessen betont er das Primat des Empfindens, der Atmosphäre, des Moments – also eines inneren oder äußeren Zustands, aus dem ein Bild erwächst. Er lehnt die Vorstellung ab, dass Kunst ein rein geistiger Entwurf sei, der nur noch ausgeführt werden müsse. Stattdessen sind für ihn die unmittelbare Erfahrung und das augenblickliche Menschsein relevant. Dieses Sein kann dabei vieles bedeuten: ein emotionaler Zustand oder ein körperliches Empfinden, eine intuitive Regung, aber auch eine bestimmte Wahrnehmung der Welt. Das Bild ist somit keine Illustration eines Gedankens, sondern ein sichtbar gemachtes Gefühl, ein Gefühl, das sich vielleicht sogar durch nichts anderes als Malerei ausdrücken lässt. Das Bild entspringt nicht dem Denken über das Sein, sondern dem Sein für das Bild.

 

„Ich traue der Linie erst, wenn sie sich mit dem Hintergrund verträgt.“

Auf die Frage wie die Kunst in die Welt gekommen sei, wird seit der Antike eine der schönsten Legenden erzählt: Um eine Erinnerung an den Geliebten auch in Zeiten seiner Abwesenheit behalten zu können, setzte ein junges Mädchen am Abend vor dessen Abreise ihren Freund vor eine weiße Wand, entzündete eine Lampe und umriss den Schattenwurf seines Antlitzes mit einem Stück Kohle. Auch nach seinem Abschied konnte sie sich aufgrund der gezogenen Kontur an ihn erinnern. 

Die Linie ist in diesem Falle nicht nur bildkonstituierend, vielmehr wurde mit ihr und durch sie der Mensch künstlerisch tätig. Auch in späteren Jahrhunderten hatte sie eine besondere Bedeutung inne. Die Zeichnung, nicht die Farbe war es, die zu Beginn eines jeglichen Studiums der Malerei in den Werkstätten und Akademien gelehrt wurde. Wer sie beherrschte hatte die Kunst erfasst, wer sie beherrschte galt als Künstler. Mit ihr beginnt alles. 

Mit ihr begann alles. Denn seit der Moderne hat die Zeichnung ihre Vorrangstellung eingebüßt. Sie ist nicht mehr autonom. Sie muss sich in Beziehung setzen lassen zu Fläche, Figur, Grund, Form und Raum. Das traditionelle Verhältnis von der Linie als Umriss und konstituierendem Bildmittel veränderte sich. Spielte sie über Jahrhundert hinweg die zentrale, der Vernunft unterworfene Hauptrolle der Darstellung, übernahm die Kontrolle, stand für Klarheit und verlieh der Komposition Struktur, verlor sie in der Moderne zunehmend ihre Souveränität. 

Für Ernst Handl kann sie nur dann als relevant und konstituierend gelten, wenn sie eingebettet in die Gesamtheit des Bildwerks ist und keinen Widerspruch auslöst. Sie avanciert zum Ausdruckselement für ein kompositorisches Gleichgewicht. Sie muss sensibel und klug gezogen sein, um sich nicht dem Vorwurf der Beliebigkeit auszusetzen. Ihre Wirkung hängt vor allem davon ab, wie sie sich zu ihrem Gegenüber, dem Hintergrund verhält: ob sie ihn dominiert, durchdringt oder mit ihm in Resonanz tritt. Die gesetzte Linie zeugt nicht länger von ihrer Vorrangstellung am Beginn des Kunstwerks, sondern von ihrer Fähigkeit sich in den bildnerischen Prozess einzufügen.

 

„Farben sprechen miteinander – ich höre zu.“

»Schöne Farben ohne Zeichnung mit denen allerlei buntes Zeug ohne richtige Umrisse zustande gebracht wird, welche Ehre erwerben die?“ Pietro Aretino schrieb diese Zeilen als die Diskussion über die Vorrangstellung der Linie über die Farbe in Italiens Kunstwelt im 16. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreicht hatte. Michelangelo und Tizian, Florenz und Venedig sowie später Poussin und Rubens wurden gegeneinander ins Feld geführt, wobei die Farbe stets der Linie unterlag. Erst der Kunstkritiker Roger de Piles wird das Blatt wenden. Er entreißt die Farbe ihrer dienenden Funktion und erkennt ihre eigenständige Ausdruckskraft. In seinem „Dialogue sur le colorit“ aus dem Jahre 1673 ergreift er heftig Partei für die Farbe, die bis dato als der Zeichnung untergeordnet galt. Die Linie stand für Intellekt, Ruhe, Bedacht und die geschätzte Nachahmung der Antike. Der disegno hatte sich im Verlauf der Renaissance immer weiter ideell mit geistigen Prinzipien aufgeladen, während die Farbe mit Materie und Sinnlichkeit assoziiert wurde. De Piles argumentiert, dass das Kolorit das Ureigenste der Malerei sei, während die Zeichnung auch in anderen Sachgebieten, wie beispielsweise der Anatomie oder Architektur Verwendung finde. Die Zeichnung habe doch eigentlich nur Vorbereitungscharakter, da sie bei der Vollendung eines Gemäldes hinter dem Kolorit wieder verschwinde. Zudem sei es die Farbe, die das Betrachterauge auf der Oberfläche erblicke. Hinter einem schön gesetzten Kolorit dürfe sogar der Inhalt des Bildes zurückstehen. Roger de Piles‘ Betonung der visuellen Erscheinung des Bildes als einer farblich gestalteten Komposition war im 17. Jahrhundert revolutionär und nahm gewissermaßen die Kunsttheorie der Moderne vorweg. 

Nicht verwunderlich scheint es, dass Ernst Handl diesen aufregend strahlenden Farben als Verkörperung von Sinnlichkeit, Leidenschaft und Fantasie lauscht, die sich so viel zu erzählen haben. Dass der Künstler ein äußerst aufmerksamer und feinsinniger Zuhörer ist, davon legen seine Bilder ein sehr beredtes Zeugnis ab. 

 

„Ich glaube nicht an Innovation als Ziel. Ich glaube an innere Bewegung.“

Neuerungen gelten heute als Marksteine jeglicher Entwicklung. Vor etwa 500 Jahren hat sich dieses Verständnis herausgebildet. Bis dahin war die mittelalterliche Kunstauffassung von einer Übersetzung tradierter Bilder und Motive geprägt. Der Künstler, soweit wir diesen Terminus für jene Zeit überhaupt verwenden wollen, hatte nicht die Aufgabe Neues zu erschaffen. Sein Talent war ihm von Gott verliehen worden und in dessen Dienst sollte er es stellen. Erst die Renaissance entdeckt die aufregende Lust am Neuen und Unbekannten. Einer der wichtigsten Kunsttheoretiker jener Zeit, Leon Battista Alberti, verwendet in der Mitte des 15. Jahrhunderts zum ersten Mal überhaupt den Begriff der inventio, der Erneuerung. Ab dieser Zeit galt die Innovation als eines der wichtigsten Kennzeichen eines jeden großen Meisterwerks. Im 18. Jahrhundert bildete sich dann der Geniebegriff heraus. Seine Fähigkeit der schöpferische Hervorbringer von Innovativem zu sein, machte ihn zu einer herausragenden Persönlichkeit, vor allem auch wenn er durch sein Tun gegen geltende Regeln verstieß. 

Wenn wir heute von Innovation sprechen, sind damit auf kunsthistorischem Gebiet die bekannten großen „ersten Male“ thematischer und technischer Natur gemeint: Giottos erkennbar fühlende, in Bildräumen agierende, menschliche Figuren, Masaccios korrekt gemalte Zentralperspektive, Altdorfers autonomes Landschaftsgemälde, Caravaggios revolutionärer Verismus, Monets impressionistischer Sonnenaufgang, Duchamps kurzerhand zum Kunstwerk erklärter Alltagsgegenstand. Aber nicht nur die Erfindungen des Nochniedagewesenen, sondern auch überraschende Kombinationen des bekannten Formenschatzes, die man geschickt für die jeweilige Gegenwart adaptiert, erfuhren in der Kunstgeschichte stets höchste Anerkennung. 

Dieser kleine Exkurs sei gestattet, um wiederum das Innovative in Ernst Handls Ansatz zu verstehen. Denn auch im 20. Jahrhundert war das Verhältnis von originalitätsgetriebener Avantgarde und authentischem Ausdruck ein Thema, das Künstler immer wieder beschäftigt hat. Neuheit wurde zur Währung der Relevanz. Ernst Handl wendet sich gegen dieses Denken. Hier strebt einer eben nicht nach dem Überraschungseffekt. Nicht das Neue um des Neuen willen zählt, sondern die authentische Entwicklung. Der wahre schöpferische Akt ist für Handl ein Ausdruck innerer Bewegung. Kunst ist ein strebendes Ringen nach einem Zustand der empfänglichen Offenheit. Innovation ist für Handl nicht per se etwas Erstrebenswertes. Es hat für ihn keinen immanenten Wert. Kunst ist für ihn kein Vehikel Richtung Zukunft, sondern ein Medium zum Ausdrücken innerer Wandlungsprozesse. Das Kunstwerk hat etwas Dringliches, das sich seinen Weg bahnen muss. In dieser Verweigerung liegt für eine Kunst des 21. Jahrhundert dann eben doch etwas überraschend Neues.

 

„Das Menschsein ist kein Thema, es ist ein Rätsel. Ich male daran entlang.“

Der Mensch als Thema und Motiv hat eine lange Tradition in der Kunstgeschichte. Wurden in früheren Zeiten gemäß der akademischen Doktrin doch all jene Bilder als höher rangig eingestuft, die menschliche Figuren zeigten. Ein schlecht gemaltes figurenreiches Gemälde galt stets mehr als das brillanteste Stillleben. 

Der Mensch war das Maß der Dinge in der Kunst von Beginn an. Feierte man in der Antike einen ästhetisch idealisierten Körper, dessen makelloses Äußeres laut der späteren Theorien Johann Joachim Winckelmanns stets ein Spiegel der edlen Einfalt und stillen Größe der griechischen Seele war, nahm sich die mittelalterliche Kunst in der Darstellung der menschlichen Leiblichkeit zurück, galt es als höchste Aufgabe der Kunst doch das Heilige und Göttliche in Bilder zu fassen. Spätestens in der Epoche der Renaissance, in die auch der erste große Siegeszug der Gattung des autonomen Porträts fällt, ehrt die bildende Kunst den Menschen in all seinen Facetten. Von psychologischem Feinsinn gestaltet sich sein Abbild, das nun stets auch Auskunft über das Seelenleben zu geben hat. Physisch präsent werden die häufig nackten Leiber im Barock, bevor die Moderne beginnt den menschlichen Körper zu fragmentieren und zu hinterfragen. Mit diesem Fortgang der Entwicklung wuchs jedoch auch die Erkenntnis, dass je mehr gezeigt wurde, desto weniger sich offenbarte. Aus dem Thema Mensch wurde das Geheimnis Mensch. Die Kunst konnte nicht länger ihre Aufgabe darin sehen, eine Erklärung abzugeben, sondern stellte das Menschsein auf eine Weise dar, die als Metapher gelesen werden musste. Hinter jeder Geste, jedem Blick, jeder Linie lag nun etwas, das sich dem Betrachter sofort auch wieder entziehen konnte. Nach Kant ist der Mensch das einzige Wesen, das sich selbst Fragen stellt, die es nicht beantworten kann.  

In Ernst Handls Aussage schwingt die Absage an die Vorstellung mit, der Mensch könne in seiner Gänze begriffen, dargestellt oder gar erklärt werden. Das Menschsein ist kein Thema. Nicht etwas, das sich behandeln, sezieren, systematisieren lässt und als bloßes Motiv gelten kann. Es bleibt ein unzugängliches, vielschichtiges Rätsel voller Ambiguität. Vielleicht liegt aber gerade in dieser Unzugänglichkeit die tiefe Wahrheit über das Verhältnis zwischen Kunst und menschlichem Dasein verborgen. In diesem Sinne ist Handls Aussage ein poetischer Ausdruck für eine künstlerische Haltung: eine Form des tastenden, fragenden Denkens mit dem Pinsel, das gar nicht versucht dieses Rätsel zu lösen, sondern es auszuhalten im Stande ist. 

 

„Ein gutes Bild will etwas von mir – nicht umgekehrt.“

Der Begriff des Kunstwollens beschreibt ein Phänomen, das sich nur schwer in Worte fassen lässt, obwohl es die Grundlage jedes Kunstwerks ist: Was treibt den Menschen an, sich künstlerisch auszudrücken? Und warum geschieht dies in unterschiedlichen Epochen auf so verschiedene Weise?

Alois Riegl prägte den Begriff des Kunstwollens in dem Versuch, genau dieses innere Bedürfnis zu erklären. Schon zu seiner Zeit waren seine Ausführungen heftig umstritten. Riegl ging davon aus, dass dem Menschen ein gestaltender Drang innewohnt, ein übergeordnetes Wollen, das ihn über Zeiten und Kulturen hinweg zur künstlerischen Produktion antreibt. Mit diesem Denkansatz durchbrach Riegl die damals vorherrschende Kunstbetrachtung, die sich meist auf äußere Formmerkmale stützte. Für ihn existierten weder Verfallszeiten im Sinne klassischer Kunstdoktrinen noch „schlechte“ Kunst, vielmehr sah er jede künstlerische Arbeit als Ausdruck eines zeitgebundenen, kollektiven Gestaltungswillens.

Auch Ernst Handl spricht im übertragenen Sinne von einem Kunstwollen, nur dass er die Bewegungsrichtung umkehrt: nicht der Schöpfer will etwas, sondern das Werk. Der kreative Akt wird hier nicht als einseitiger Prozess verstanden, bei dem der Künstler dem Bild seinen Willen aufzwingt, sondern vielmehr als ein wechselseitiger Austausch, in dem das Werk eine eigene Präsenz entfaltet, eine Art Eigenleben, das an den Künstler adressiert ist, ihn lenkt und fordert. Ein gelungenes Bild ist in dieser Sichtweise nicht das Produkt souveräner Kontrolle, sondern das Resultat eines offenen, sensiblen Hörens auf das, was das Bild will. Ein Bild überfalle ihn bisweilen und wolle dann nach außen dringen, beschreibt Handl diesen überaus starken Vorgang. Es stellt Anforderungen und Fragen, wehrt sich mitunter gegen vorschnelle Lösungen und verlangt nach einer Tiefe, die sich nicht aus bloßer Intention ableiten lässt. Der Künstler avanciert vom Gestalter hin zum Mittler, zum Medium indem er sich von der inneren Notwendigkeit des Bildes lenken lässt. So verweist auch dieser Satz auf eine künstlerische Ethik des Zuhörens, der Hingabe und der Demut. Handl formuliert erneut ein Verständnis von Kunst, in dem das Bild als eigenständige Instanz agieren darf, die sich nicht vollständig kontrollieren lässt. Sie tritt dem Künstler entgegen, bisweilen vielleicht sogar gegen seinen Willen, damit er einer bestimmten Form, Farbe, Geste oder Wahrheit durch sein künstlerisches Handeln Gestalt verleiht.

 

„Alter ist kein Verfall, sondern ein neues Licht. Ich widerspreche dem Grau.“

Rembrandt, Tizian oder Michelangelo, Georgia O’Keeffe und Louise Bourgeois sind nur einige wenige Namen aus dem weiten Feld der Kunstgeschichte, die der üblichen Annahme von der im Alter abnehmenden Energie des schöpferischen Schaffens widersprechen. Michelangelos so eigene „Manier“ verlieh einer ganzen Epoche ihren Namen. Rembrandt übergab in seinem Spätwerk der Farbe das Szepter und löste sich nahezu von einer inhaltlichen Darstellung. Tizian nahm in seinem Spätwerk avant la lettre den Expressionismus vorweg und Louise Bourgeois wird heute als eine Ikone der feministischen Kunstgeschichte gefeiert, weil sie mit über 80 Jahren ihre Hauptwerke schuf, für die sie heute auf der ganzen Welt bekannt ist. 

Mit seinem Denkansatz ist Ernst Handl also in guter Gesellschaft, wenn er für eine bewusste Deutung des Altersprozesses plädiert. Aber leider ist unsere heutige Gesellschaft geprägt von der tief verankerten Vorstellung Alter mit Verfall, Stillstand und farblicher Tristesse gleichzusetzen. Statt jedoch die letzten Lebensjahre als Abschwächung oder als Rückzug ins Unsichtbare zu begreifen, versteht Handl diese Zeit als ein neues Licht, das die Dinge anders, vielleicht sogar klarer erscheinen lässt.

Seine Haltung kann auch aus kunsthistorischer Perspektive als Widerstand gegen die ikonografische Konnotierung des Alters mit Vergänglichkeit und Dunkelheit gedeutet werden. Der Künstler positioniert sich nicht nur gegen das symbolträchtige Grau, als Metapher für Gleichförmigkeit, absolute Neutralität oder emotionale Abstumpfung, sondern erhebt das Altern zur produktiven Dimension der künstlerischen Wahrnehmung und Gestaltung. Das neue Licht lässt auch eine neue Sensibilität entstehen: ein Sehen, das durch Erfahrung geschärft ist und durch Lebenszeit verdichtet wurde. Es ist kein blendendes Licht mehr wie zur Mittagszeit, sondern ein schräg einfallendes, weiches, tolerantes Abendlicht, das reflektiert, statt auszuleuchten, das bewusst macht, satt anzustrahlen. 

Die Kunst des Alters erscheint somit als eine neu erworbene Fähigkeit, Nuancen feiner zu erfassen, Ambivalenzen freundlich zuzulassen und das Essentielle zu erkennen. Indem der Künstler dem Grau widerspricht, tritt er nicht nur einer Farbe entgegen, sondern einer Denkfigur. Handl formuliert hier auf poetische Weise eine Absage an kulturelle Narrative, die das Alter entwerten, und gleichzeitig ein Bekenntnis zur ästhetischen wie existenziellen Relevanz des späten Lebens. 

 

„Die Dunkelheit gehört dazu. Auch der Dämon malt mit.“

Heftig wird in der Gegenwart die Debatte geführt, ob sich Werk und Autor trennen lassen. Je weiter die Fälle zurückliegen, desto milder fällt das Urteil aus. Sind wir bei zeitgenössischen Hollywoodregisseuren ungnädig, streichen ihre Filme von Listen, sind wir gewillt erstaunlich milde zu urteilen je länger zurück das Verbrechen in der Vergangenheit stattfand. Der mehrfache Mörder und Gewalttäter Benvenuto Cellini lebte im 16. Jahrhundert und erfreute sich bereits zu Lebzeiten äußerst nachsichtiger Richter. Höchste Kreise des Vatikan machten bei einem dermaßen begnadeten Künstler, der als Mensch Verfehlung an Verfehlung reihte, ob seines Genies gerne eine Ausnahme. Das Gleiche geschah bei Caravaggio und Gianlorenzo Bernini. Wir Heutigen bewundern ihre terribilità mit wohligem Schauer. Wir können uns nicht satt sehen an der Energie und kraftvollen Schönheit ihrer Werke, die aber vermutlich doch auch Ausdruck des gewaltvollen Innenlebens ihrer Schöpfer sind.

Die Genannten sind natürlich Extrembeispiele. Das Dunkle muss sich nicht immer in Gewaltausbrüchen zeigen. In sich trägt es vermutlich aber jeder Mensch. Auch der Künstler. 

Vielleicht ist er nicht die dominierende Kraft, aber Raum bekommt der Dämon immer in Ernst Handls Werkschaffen. Kunst leitet sich nicht allein aus dem Schönen und der harmonischen Komposition her, sondern auch aus den Abgründen des eigenen Seelenlebens, aus Unruhe, Zweifel und innerer Dunkelheit. Handl gibt dem Raum. Auch das Dissonante, das Unbewusste und das Unheimliche erkennt er als konstitutive Kräfte an.

Jene Dunkelheit muss nicht zwingend aus persönlich Erlebtem, Krisen oder Tiefschlägen herrühren, sondern kann auch für die dunkle Seite des Menschseins, das Unsagbare oder Chaotische ansich stehen. All das, was sich der rationalen Kontrolle entzieht, darf im künstlerischen Akt eine produktive Form finden. Der Dämon verweist auf das innere Fremde, das beunruhigt, antreibt und zugleich inspiriert. Vielleicht steht dieser Dämon aber auch in der antiken Tradition des daimonion, jener inneren mahnenden Stimme, die vor Fehlentscheidungen warnt und dadurch eine bereichernde Hilfe im Lebensprozess darstellt. 

Immer wieder zeigt der Blick in die Kunstgeschichte, dass gerade die Konfrontation mit innerer Finsternis mit Angst, Schmerz und seelischer Zerrissenheit zu Bildwelten führen kann, die von erschütternder Wahrheit und existenzieller Tiefe zeugen. Auch bei Ernst Handl ist das Dunkle ein zentrales Motiv: nicht als bloßer Inhalt, sondern als strukturelles Moment. Indem der Künstler anerkennt, dass auch der Dämon mitmalt, gesteht er dem Unbewussten und Ungeordneten eine Mitautorschaft zu. Die künstlerische Leistung liegt darin, diesen dunklen Energien Form zu geben, sie nicht zu verdrängen, sondern in eine Bildsprache zu überführen, die berührt, verstört und dem Unbewussten Gestalt verleiht. Dies zwingt den Betrachter, traditionelle Gestaltungsprinzipien zu hinterfragen und in der Komposition auch den angstvollen Abgrund zuzulassen. Der sogenannte gute Geschmack darf hierbei keine Rolle spielen. Der dunkle Zweifel ist der Weg, der nicht die bequeme Abkürzung über das Gefallen nimmt. 

 

„Ich bin nicht das Bild – aber ohne mich gäbe es das Bild nicht.“

Seit der Renaissance hat die Kunsttheorie den Künstler zunehmend in die Rolle eines creators, eines Schöpfers, ja mitunter sogar einer gottgleichen, Leben spendenden Instanz, gerückt. Der Künstler tut nicht nur etwas: Er erschafft. In dieser Epoche wurde ein ganzer Katalog an Eigenschaften erstellt, über die ein Künstler verfügen muss, um etwas hervorbringen zu können. Mit ingenium bezeichnete man die schöpferischen und geistigen Fähigkeiten, als Voraussetzung für das künstlerische Schaffen am Werk. Inventio, die Erfindungsgabe, die Fähigkeit auch neu und anders als gewohnt zu denken und zu agieren kennen wir bereits. Aber auch Urteilskraft und Auswahlvermögen, iudicium, waren notwendig sowie schlussendlich aptum, die Entscheidung zur Angemessenheit in Bezug auf den ausgewählten Bildgegenstand. Auch wenn diese Kriterien vor mittlerweile mehr als 600 Jahren formuliert worden sind, scheinen sie doch immer noch gültig. Vielleicht benennen wir sie heute anders, sprechen von Einfall oder Kreativität. Wir meinen aber noch immer die essentiellen Fähigkeiten eines Künstlers, ohne die ein Werk nicht entstehen kann. In der Person des Künstlers müssen all diese Eigenschaften kulminieren. Ohne ihn gibt es kein Kunstwerk. 

Handl beschreibt sich folgerichtig in diesem Zusammenhang selbst als notwendige Voraussetzung für das Entstehen des Bildes, auch wenn dieses später unabhängig von ihm weiterwirkt. Zwar ist das Kunstwerk das Produkt des Künstlers, doch entfaltet es eine eigene Bedeutung, die über dessen Intention hinausgeht. Der Künstler entlässt sein Werk in die Freiheit. Er identifiziert sich nicht vollständig mit dem Ergebnis seines Schaffens. Vielmehr existiert das Werk als eigenständiges Objekt, das sich nach seiner Entstehung von seinem Urheber lösen darf und offen für vielfältige, subjektive Deutungen ist, die ebenfalls zu seiner Erscheinung und Wesenheit beitragen wie der Künstler.

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