Referenz: Wien Aktuell, Heft 4, 1978

Zwischen Stadt und Landschaft

Skurrile städtische Genreszenen in Hinterhöfen und Stiegenhäusern — weiträumige, symbolhafte Traumlandschaften: Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich die in altmeisterlicher Lasurentechnik ausgeführte Malerei des jungen Wieners Ernst Handl, den wir diesmal im Rahmen unserer Künstler-Monografien vorstellen. Vor zwei Jahren machte er in einer größeren Ausstellung erfolgreich auf sich aufmerksam — „wien aktuell” veröffentlichte damals eines seiner Genregemälde —, demnächst gibt ihm die gleiche Galerie erneut Gelegenheit, seine Bilder zu zeigen (Schwarzer, Dorotheergasse, 24. April bis 27. Mai).

Ernst Handl gehört zu jenen jungen Wiener Malern, die eine solide akademische Ausbildung genossen haben — er studierte zuerst bei Gustav Hessing, später bei Anton Lehmden — und sich in ihren Ölbildern sehr virtuos und handwerklich perfekt einer altmeisterlichen Lasurentechnik bedienen, die sie von Bild zu Bild vollkommener beherrschen. Mitunter auf Kosten der Lebendigkeit. Handl ist sich der Problematik dieser Art zu malen aber offensichtlich bewußt.

„In Bildern, wie ich sie male, steckt viel langwierige Handwerksarbeit, bei der die Seele auf Eis liegt”, gibt er umwunden zu. Und überlegt, wie er den Gefahren der Erstarrung entrinnen, wie er „die aufregenden schöpferischen Momente” bei der Arbeit öfter haben könnte. Wenn nicht alles täuscht, steckt er mitten in einem Prozeß, dessen Ausgang noch nicht abzusehen ist. Bei seiner Ausstellung in der Galerie Schwarzer Ende April wird man freilich noch den Bildern jenes Ernst Handl begegnen, den man dort schon vor zwei Jahren kennenlernen konnte und der auf den ersten Blick zwei Gesichter zu haben scheint. 

Das eine ist das des Landschafters, das andere das des Malers von Wiener Genreszenen wie des „Mistkübelstierers” (siehe Seite 27) oder des Bildes „Sonntag in Wien” (siehe Heft 7/8, 1976, Seite 24): Eine dicke Frau im gestreiften Hauskleid mit Lockenwicklern im Haar, neben sich eine gefleckte Katze, lehnt am Fenster und schaut auf die sonntägliche leere Straße hinunter. Was dabei vor allem auffällt, ist die ungewohnte Perspektive — so, als ob sich der Betrachter des Bildes von hinten an die Frau heranpirschte. Handl malt öfter Menschen von hinten. Auch der Mistkübelstierer ist von hinten gesehen, allerdings dreht er sich, so, als ob er sich überrascht fühlte, halb zum Beschauer. 


Interesse am Skurrilen

Das hängt damit zusammen, meint Handl, daß er in Menschen, die er malt, oft hineinschlüpfe wie in eine Rolle. Wozu er sie zunächst beobachte, studiere. Außenseiter haben es ihm besonders angetan. Daß er dabei besondere sozialkritische Ziele verfolge, könne man eigentlich nicht sagen — und Sozialkritik spielt in seinen Bildern tatsächlich kaum eine Rolle —, aber die scheinbare Freiheit, die Unabhängigkeit solcher Menschen interessiert ihn. Wobei er zugibt, daß man sich selbstverständlich täuschen kann. So mancher dieser Außenseiter mag in Wahrheit nur ein unglücklicher Gestrandeter sein. In seinem Bild vom Mistkübelstierer hat man es jedenfalls mit einer Genreszene zu tun, die auch vom Interesse am Skurrilen der Situation in einem Zinskasernenhof geprägt ist. 

Ganz anders die Landschaften mit ihrem Pathos und ihrer Weiträumigkeit. Landschaften, in denen es — von wenigen Ausnahmen abgesehen — keine Menschen gibt und kaum Spuren von menschlicher Zivilisation. Es sind unberührte, jungfräuliche Landschaften, die übrigens nicht vor der Natur entstanden sind. Sommerliche Reisen nach Griechenland, abseits der Trampelpfade des Tourismus, haben Handl die Anregungen verschafft, aber zum Unterschied von den Menschen, die er zeichnet und zeichnend studiert, macht er von Landschaften kaum je Skizzen. Seine Landschaften sind gewissermaßen Atelierräume — und nicht frei von Symbolik manieristischer Herkunft. Aus einer Felsformation löst sich ein steinernes Gesicht, ein Flußbett nimmt die Gestalt von zwei menschlichen Armen an. Metaphern, die eine verhältnismäßig enge Bindung an die Bildsprache und das Klischeerepertoire der Phantastik verraten.


Seele auf Eis

Ein besonderer Typus von Landschaft, der in Handls Landschaftsbildern eine wichtige Rolle spielt, ist die Höhlen- und Kraterlandschaft. Von einer sexuellen Deutung des Kraters will er allerdings nichts wissen, was ja nun nicht heißt, daß sie nicht erlaubt wäre. In einem Bild, das er momentan in Arbeit hat, wird ein Stiegenhaus, wie es sie in alten Wiener Zinshäusern gibt, zum Schacht, in den der Blick des Beschauers gleichsam hineinstürzt — für Handl ergeben sich dabei gewisse Zusammenhänge zu seinen Kraterlandschaften. Auf der Stiege steht ein junges Mädchen, das mißtrauisch, vielleicht sogar ein wenig ängstlich, nach oben blickt. Solchen Stiegenhäusern, wie er jetzt eines gemalt, hafte ja manchmal etwas Unheimliches an, das sich hier auch auf die Figur übertragen hat.

In seiner Atelierwohnung in einem Gemeindebau im fünften Bezirk, die er mit seiner Frau, gleichfalls einer Malerin, bewohnt, herrscht dagegen die Atmosphäre solider Wohlgeordnetheit. Solche Eindrücke könne auch täusche, ebenso wie die verbindliche Art des Gesprächspartners. In einem Katalogtext zu einer Ausstellung Handls findet sich folgende Passage: „Höhlen, Schluchten,

Abgründe als Abbilder eines Innenlebens .,eine Art von Klaustrophobie schwelt unter den spiegelglatt lasierten Maloberflächen. Beängstigende atmosphärische Unsicherheit, ungewisses Drohen und Vibrieren wie vor dem großen Erdbeben wird unter der technisch gefällig bearbeiteten obersten Schichte spürbar, erzeugt das unbestimmte Rumoren. Auch hier wie fast überall in Handls Arbeiten das gebannte Hinstarren, Hineinstarren in eine nicht messbare, nicht auslotbare Tiefe” (Karl Heinz Roschitz).

Hier kommen wir der Sache doch etwas näher. Auch wenn es offenkundig ist, daß Handl während der langen Handwerksarbeit, „bei der die Seele auf Eis liegt”, vieles wieder zuschüttet von dem, was ihn bewegt hat, was ihn anzieht, kommt ja seine Interesse für die durchaus traditionelle Symbolik, die er verwendet, nicht von ungefähr. Wenn ein Künstler Bildvorstellungen aus bereits klassisch gewordenen Reportoires benützt und für seine Zwecke adaptiert, so geschieht das ja immer aus einer gewissen Affinität auch zu den Dingen, die dahinterstecken, heraus. Weil sie ihn erregen, ansprechen oder, weil er sich mit ihnen identifiziert. Weil er verwandtes entdeckt. 

Pathosgeladene, symbolschwangere Landschaft und städtische Genreszene — das sind die beiden Pole, zwischen denen sich Ernst Handls Malerei gegenwärtig abspielt. Eine Malerei, die nirgends von den Zweifeln an der Malerei überschattet ist, wie sie vielen Künstlern heute kommen. Dem, was unter Avantgarde geführt wird, steht Handl dementsprechend auch mit vorsichtiger Skepsis gegenüber, schätzt sogar, daß solchen Tendenzen vergleichsweise sehr viel Wert beigemessen werden, den er offenbar den Dingen nicht beizumessen bereit ist. Wenn er es nicht sagte, man merkte es an seinen Bildern. 

Was ihn ganz offenkundig auch mehr interessiert, sind die vielfältigen formalen Probleme der klassischen Technik, die ja jeder — auch wenn man sie an der Akademie in allen Einzelheiten erlernen kann — für sich neu erobern muß. Zur Ölmalerei brauche man Geduld, hat er entdeckt, muß warten können, bis der Trocknungsprozeß genügend weit fortgeschritten ist, sonst entstünden Grausoßen. Seit einiger Zeit verwende er für die Dunkelzonen kein Schwarz mehr, sondern nur noch Farben.

Man spürt nun allerdings, wenn er von diesen handwerklichen Dingen spricht, daß er dabei um einen offenbar wunden Punkt kreist. Ich habe schon eingangs angedeutet, daß sich ein Umwandlungsprozeß vorbereitet. Sein Gehirn sei derzeit schon weiter als seine Hand, sagt er einmal im Verlauf unseres Gesprächs.

Er werde in Hinkunft wieder viel mehr zeichnen, kündigt er an, Gesichter, Gestik, Mimik studieren. Beispiele von früheren Zeichnungen, die er vorlegt, beweisen sein Interesse am Menschen und seinen Äußerungsformen, wie es sich auch in seinen Genreszenen niedergeschlagen hat. Nur ist es in der Zeichnung naturgemäß unmittelbarer, spontaner. In seiner Studienzeit, erzählt er, hat er, weil er in Niederösterreich lebte, auf seinen langen Fahrten zur Akademie immer wieder Zeit gehabt, die Leute und Typen zu studieren, denen er begegnet ist — vorzugsweise die Ausgeflippten und Gestrandeten, die ihn schon damals besonders anzogen, aber auch Bahnbeamte und andere „normale” Menschen. Diesem Studium werde er sich jetzt wieder mehr widmen. 


Geordnete Welt

Ob nicht die Spontaneität, die in der Zeichnung liege, von besonderem Reiz sei, frage ich. Schon, gewiß, aber er befinde sich immer in der Situation des Künstlers, der, wenn er ein Konzert gibt, auf einem ganzen Orchester spielen möchte. Nur das Flötensolo zu blasen, sei ihm auf die Dauer eben zu wenig. Seine Formulierungen klingen überlegt, fast ein bißchen zurechtgelegt — aber immer so wie die eines Mannes der genau weiß, was er möchte, der sich seine (künstlerische) Welt nach genauen Vorstellungen geordnet hat. So penibel und aufgeräumt — und ich traue mich zu sagen: Nicht nur für den erwarteten Besucher — wie sein Arbeitsplatz ist, so penibel und aufgeräumt wirken auch seine Bilder. Auch dort, wo er im Düsteren stöbert. 

Es ist kein Zufall, wenn er von sich den Eindruck hat, daß Bilder, die plötzlichen Erlebnissen entspringen, meistens „abstürzen”  Wozu man gleich ergänzen kann, daß er auch weiß, daß er sich häufige Abstürze nicht leisten kann bei einer langwierigen Arbeitsweise, wie er sie sich nun einmal eingebrockt hat. Ein abgestürztes Bild bedeutet einen verlust von vielen Wochen (oder sogar Monaten) Arbeit. Viel mehr als ein rundes Dutzend im Jahr schafft er ohnehin nicht. Zugleich ist er sich aber auch darüber im klaren, daß mit der Produktion der Standard kommt, der Wunsch nach dem gesicherten und das Steigen der Ansprüche. Diese (zwangsläufige?) Entwicklung versucht er jetzt in Frage zu stellen. Wie — das wird man ja sehen.


Harald Sterk

Zu den Bildern auf Seite 27: Hinter dem krassen Realismus der Gemälde Ernst Handls steckt mehr als ein Abbild der Wirklichkeit: Der Maler hat eine Art zweiter Ebene eingebaut, die gewissermaßen einen Blick hinter die Realität der Dinge erlaubt. Mehr noch als in seinen städtischen Genrebildern (oben links: „Mistkübelstierer”, 1976; oben rechts: „Im Hausflur”, 1975) kommt dies in seinen Landschaften (unten: „Meer in der Ferne”, 1975) zum Ausdruck, die bei aller Realität Traumvisionen vermitteln.